:wumpscut: – Siamese

:wumpscut: – Siamese

Ein Spagat zwischen Kreissäge und Kontemplation

Rudy Ratzinger meldet sich 2010 zurück mit Siamese – und wer dachte, :wumpscut: hätte nach Evoke und Body Census seine berüchtigte Schärfe gegen Zuverlässigkeit eingetauscht, wird hier angenehm verunsichert. Das Album schubst einen mit offenen Armen in den Maschinenraum der Nacht und erinnert dabei an alte Bunkerzeiten – mit einem Hauch Wahnsinn, wie man ihn bei einem Soundtrack zu einem Lynch-Film erwarten würde, wenn der Cutter EBM mag.

Der Einstieg: Wucht und Wahnsinn

Falling from Lucifer’s Grace

Was für ein Opener. Der Track ballert los, als wollte Ratzinger persönlich dem heiligen Luzifer die Flügel stutzen. Harte Sequencer, düsterer als eine U-Bahn um vier Uhr morgens, und eine Aggressivität, die nicht nur clubtauglich ist, sondern clubnotwendig. Hier wackelt nicht die Wand, hier werden gleich die Grundmauern eingerissen.

Boneshaker Baybee

Ein Stampfer der Extraklasse. Tanzflächentauglich bis zur Selbstaufgabe, mit einem Kreissägensample, das die Geister früherer :w:-Glanzzeiten beschwört. Der Track ist nicht subtil, er ist ein elektrischer Tritt in die Magengrube – und das ist als Kompliment gemeint.

Zwischentöne: Atmosphäre statt Aggression

Siamese

Der Titeltrack wirkt fast zart im Vergleich zu den Vorgängern. Ratzinger gibt sich hier melancholisch, ja fast verstörend nachdenklich. Atmosphäre statt Aggression. Der Track ist kein Hit, aber ein Statement. Eines, das man nicht unbedingt auf der Tanzfläche braucht, dafür aber spätestens beim vierten Durchlauf als soundgewordenes Gemälde wahrnimmt. Dunkel. Unverständlich. Faszinierend.

Ziribit

Jetzt wird’s eigen. Instrumental, verspielt, mit Klavierlinien, die fast romantisch wirken könnten, wenn da nicht dieses nervtötende Hundegebell wäre. Ein Track wie ein Traum, der schön beginnt, aber dann auf LSD umkippt. Kunstvoll? Sicher. Essenziell? Vielleicht nicht.

Auf Wiedersehn im Massengrab

Ein Titel, wie ihn nur :wumpscut: schreiben kann. Der Song selbst: getragen, aber nicht langsam. Hypnotisch, wie ein Lied für den letzten Tanz eines verlorenen Soldaten. Der Beat pulsiert langsam, fast ritualhaft. Wäre der Track ein Film, dann einer in Schwarz-Weiß, gefilmt durch eine trübé Linse.

Der Rückschlag: Industrial in Reinform

Teufelszeug

Jetzt wird’s wieder laut. Der Track schreit: „Ich bin Industrial!“ – in bester :w:-Manier. Das bayerisch gerollte „Teufelszeuch“ ist ein kleiner Running Gag in der Szene geworden, der Sound aber alles andere als ein Scherz. Hier regieren verzerrte Vocals, schrille Synths und eine unbarmherzige Rhythmik. Stampfen oder weiterklicken? Ganz klar: Stampfen!

Bam Bam

Eine Lektion in Minimalismus. Der Track braucht wenig, um viel zu sein. Ein Sample, das sich wie ein Mantra durch die Struktur zieht, dazu ein perkussiver Beat, der an Nitzer Ebb erinnert, wäre dieser auf Ayahuasca gewesen. Nicht überproduziert, nicht unterkomplex. Einfach: Bam.

Loyal to my Hate

Mein persönlicher Höhepunkt. Vielschichtig, durchkomponiert, mit einer Hookline, die man nicht mehr loswird. Der Song ist nicht nur der Beweis, dass Ratzinger nichts verlernt hat – er ist eine Blaupause dafür, wie moderner EBM mit Seele klingen kann. Pflichttrack. Punkt.

Das Nachspiel: Klangteppiche und Kontraste

Blood Stigmata

Jetzt wird’s flächiger. Der Track schwebt mehr, als dass er stampft. Eine Art Soundteppich für Gedankenflüge ins Düstere. Nicht ganz so zwingend wie andere Tracks, aber als Kontrast wichtig. Der Sound ist beinahe ambient, aber immer noch klar Ratzinger.

Killuh

Ein Abschluss, der irritiert und begeistert zugleich. Weibliche Vocals, ungewohnt und dadurch umso spannender. Der Song wirkt fast wie ein Outro, das den Hörer sanft aus der Dunkelheit entlässt. Melancholisch, aber nie weinerlich. Ein starkes Ende für ein starkes Album.

Fazit: 9 von 10

Siamese ist kein weiteres „ganz nettes“ Album von :wumpscut:, sondern eine klare Kampfansage an all die glattgebügelten Elektro-Projekte, die zwar laut, aber nie intensiv klingen. Rudy Ratzinger gelingt hier ein Spagat zwischen Tradition und neuer Tiefe. Klar, nicht jeder Track zündet sofort, aber das Album ist ein Statement, das bleibt. Die 9 Punkte sind verdient – weil Rudy sich hier traut, alt zu sein, ohne altbacken zu wirken.

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